Christa Wolf starb am 1. Dezember 2011 im Alter von 82 Jahren in Berlin - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Women + Work



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 01.12.2011


Christa Wolf starb am 1. Dezember 2011 im Alter von 82 Jahren in Berlin
Joey Horsley

Die bekannteste und in den 1990er Jahren auch umstrittenste deutsche Schriftstellerin hinterlässt ein Werk, das so facettenreich ist wie ihre eigene Lebensgeschichte. Ihre Biografie erschien...




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Christa Wolf, geborene Ihlenfeld, neben Günter Grass wohl Deutschlands renommierteste Schriftstellerpersönlichkeit, wurde 2002 für ihr Lebenswerk mit dem erstmals verliehenen Deutschen Bücherpreis geehrt, weil sie sich, so die Jury, "mutig in die großen Debatten der DDR und des wiedervereinigten Deutschland eingemischt" habe. Doch Wolf war schon längst wegen ihrer tiefgründigen Schriften und mutigen Stellungnahmen eine Identifikationsfigur für ihre LeserInnen im "Osten" wie im "Westen" geworden. Mit ihrem die Dinge befragenden, reflektierenden Stil bringt sie ihre LeserInnen dazu, selbst über die Fragen nachzudenken, die sie an die moralischen und politischen Ereignisse ihrer Zeit – von der Aufbauphase der DDR bis zu deren Ende und danach – stellt.

Zuerst als neue Stimme der DDR-Literatur gefeiert, galt sie seit den 60er Jahren als "loyale Dissidentin", die das Regime kritisierte, aber dem Sozialismus als besserer Alternative zum kapitalistischen Westen die Treue hielt. Mit der Zeit dehnte Wolf ihre Kritik auf die technologischen und patriarchalischen Deformationen der heutigen Kultur aus, immer darauf bedacht, das menschliche – in ihren Werken meist weibliche – Subjekt gegen Instrumentalisierungen jeder Art zu verteidigen.

Christa und ihr drei Jahre jüngerer Bruder Horst wuchsen in Landsberg an der Warthe (Gorzow Wielkpolsky im heutigen Polen) auf, wo ihre Eltern Herta und Otto Ihlenfeld ein Lebensmittelgeschäft betrieben. Am Kriegsende floh die Familie nach Mecklenburg, Christa arbeitete als Schreibkraft beim Bürgermeister und besuchte die Oberschule in Gammeln bei Schwerin. 1949 machte sie in Bad Frankenhausen ihr Abitur und trat in die SED ein. Sie studierte 1949–53 Germanistik in Jena und Leipzig, heiratete 1951 ihren Studienfreund, den Schriftsteller Gerhard Wolf, und bekam 1952 ihre erste Tochter, Annette. Von 1953–57 arbeitete Wolf als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Schriftstellerverband, wurde dann Cheflektorin im Verlag Neues Leben und 1958–59 Redakteurin der Zeitschrift "Neue Deutsche Literatur". 1956 brachte sie ihre zweite Tochter, Katrin, zur Welt.

Ihre Moskauer Novelle von 1961 bekam den Kunstpreis der Stadt Halle, und Christa Wolf ließ sich 1962 als freie Schriftstellerin in Klein-Machnow bei Berlin nieder. Ihr erster Roman "Der geteilte Himmel" (1963) erzählt von der Liebe zwischen einer Studentin und einem Chemiker, die an der Spaltung Deutschlands scheitert – der Freund geht kurz vor dem Mauerbau in den Westen, während Rita sich entschließt, in der noch im Aufbau begriffenen DDR zu bleiben. Das Buch bringt der Autorin den Heinrich-Mann-Preis, wird ein Jahr später in der DDR verfilmt und macht sie auch im Westen bekannt. Sie bekommt den Nationalpreis III. Klasse für Kunst und Literatur und wird Kandidatin des Zentralkomitees der SED.
Als Christa Wolf sich im Dezember 1965 auf dem 11. ZK-Plenum der SED als einzige Rednerin gegen eine neue restriktive Kulturpolitik aussprach, begann für sie eine Zeit schwieriger Konflikte mit dem SED-Machtapparat. Ein Film, den sie zusammen mit ihrem Mann und dem Regisseur Konrad Wolf gemacht hatte, wurde zensiert und nicht fertiggestellt.

Ihr zweiter Roman, "Nachdenken über Christa T. " (1968), wurde in der DDR zuerst verboten, dann in kleiner Auflage gedruckt. In dem Buch geht es um die Entfaltung der individuellen Persönlichkeit innerhalb einer auf Produktivität und Massennormen ausgerichteten sozialistischen Gesellschaft. Das Buch, das zum Gegenstand heftiger kritischer Debatten wurde, leitete mit seiner Betonung der "subjektiven Authentizität" der Autorin eine neue Richtung in der DDR-Literatur ein und "gehört zweifellos zu den Signalbüchern jener Zeit" (Hörnigk 132). Christa Wolf "verabschiedete … sich endgültig von überlebten Realismusvorstellungen und begründete eine neue literarische Weltsicht, die das Bewußtsein des Autors als wahrnehmendes Subjekt enthält." (Magenau 217)
In Kindheitsmuster (1976) wandte sich Wolf der Geschichte ihrer Generation zu, ging ihren Erinnerungen an das Leben im "Dritten Reich" nach, um die Wurzeln gegenwärtiger Verhaltens- und Denkmuster bloßzulegen und herauszufinden: "Wie sind wir so geworden, wie wir sind?" Als im selben Jahr der kritische Liedermacher Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert wurde, gehörte sie zu den InitiatorInnen des Protestes.

Mit ihren nächsten zwei Büchern projizierte Wolf ihre Thematik noch weiter in die Vergangenheit zurück. An Figuren aus der deutschen Romantik – Heinrich von Kleist und Karoline von Günderode – untersuchte sie in "Kein Ort. Nirgends" (1977) "den Zusammenhang von gesellschaftlicher Verzweiflung und Scheitern in der Literatur", eine Problematik, die sie damals selbst beschäftigte (Wolf zitiert in Hörnigk 187). In "Kassandra" (1983) griff Wolf auf den antiken Mythos zurück, um die Anfänge des Krieges in der patriarchalischen Kultur der Griechen zu untersuchen. Wolfs schon längst feministische Ansätze werden durch Auseinandersetzungen mit Schriften der "westlichen" Frauenbewegung vertieft und erweitert; sie wird jetzt als gesamtdeutsche Schriftstellerin anerkannt.

Obgleich Christa Wolf von 1968 bis 1989 wegen ihrer von der offiziellen Linie abweichenden Meinungen unter systematischer Beobachtung durch die Staatssicherheit stand, durfte sie trotzdem zu Tagungen und für längere Aufenthalte in den Westen reisen, wo sie zum Beispiel Gastprofessorin war (Oberlin College, USA), Vorträge hielt (Frankfurter Poetik-Vorlesungen) oder Preise entgegennahm – u.a. den Büchner-Preis der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (1980), den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur (1985) und den Geschwister-Scholl-Preis der Stadt München (1987). Nach 1990 bekam sie weitere Preise, darunter den Elisabeth-Langgässer-Preis (1999), den Nelly-Sachs-Literaturpreis (1999), und den eingangs erwähnten Bücherpreis des deutschen Buchhandels (März 2002). Trotz ihrer Enttäuschung und ihrer Kritik wollte Wolf keinen vollständigen Bruch mit der DDR-Regierung provozieren, zog sich eher soviel wie möglich aus offiziellen Gremien und Tätigkeiten zurück. Ihr Biograph Jörg Magenau betrachtet ihr Leben als "eine Chronik fortgesetzter Verabschiedungen" oder Emanzipation von jeweiligen Glaubenssätzen und Idealen, als immer wieder eintretende "Ernüchterung." Schließlich trat sie im Juni 1989 aus der SED aus und versuchte, die politischen Geschehnisse des Umbruchs zu beeinflussen. Sie und andere Intellektuelle wie Volker Braun und Stefan Heym argumentierten gegen eine Vereinnahmung der DDR durch die Bundesrepublik und für das Weiterbestehen einer unabhängigen DDR.

In den neunziger Jahren war Wolf scharfen Angriffen ausgesetzt und wurde – vor allem von westdeutschen KritikerInnen und JournalistInnen – als "Staatsdichterin" der DDR verschrien. In dem ganzen Medienrummel wurde beinahe vergessen, daß sie selbst über 20 Jahre lang unter permanenter Überwachung durch die Stasi gestanden hatte. 1990 war der in den siebziger Jahren entstandene Band "Was bleibt" erschienen, der Wolfs Reflexionen über ihre Stasi-Überwachung enthält. Er brachte ihr den Vorwurf der Heuchelei ein, besonders als 1993 herauskam, daß sie selbst von 1959 bis 1961 als "informelle Mitarbeiterin" von der Stasi geführt wurde, ihr allerdings nichts von Belang erzählt habe.
Trotz solcher Schwierigkeiten, auf die sie oft mit Krankheit reagierte, und auch um sie zu bewältigen, schrieb sie weiter: 1993 kam "Medea" heraus, Wolfs Umformung des antiken Mythos im Sinne ihrer Kritik an der gesellschaftlichen Ausgrenzung des Fremden. Die Erzählung "Leibhaftig" (2003) berichtet von einer lebensgefährlichen Krankheit der Erzählerin kurz vor dem Ende der DDR, wobei sie in Fieberträumen und plötzlichen Erinnerungen ihre Vergangenheit wiedererlebt, um sich zu "entgiften" und – anders als der sterbende Staat – schließlich zu überleben.

Mit "Ein Tag im Jahr 1960 - 2000" (2003) liefert Wolf ein wichtiges Dokument zu ihrer Biographie sowie zur Alltags- und politischen Geschichte der DDR und der zehn Jahre nach der Wende. Einmal im Jahr, jeweils am 27. September, notiert sie, auch als "Übung gegen die Lebensblindheit", welche Ereignisse und Gedanken sie gerade beschäftigen. Aus den genau beobachteten Details und schonungslosen Reflexionen wird so klar wie sonst nie, wie sehr auch das Persönlichste im Leben dieser Schriftstellerin mit der Geschichte ihrer Zeit verflochten ist. Zuletzt veröffentlichte Christa Wolf im Jahr 2010 ihren autobiografischen Roman "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud"".

Die Biografie und viele weitere Informationen zum Leben und Werk von Christa Wolf finden Sie unter: www.fembio.org

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Christa Wolf - Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud

Ein Tag im Jahr 1960 - 2000 von Christa Wolf

Konrad Wolf - Der geteilte Himmel. Nach der Erzählung von Christa Wolf




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Beitrag vom 01.12.2011

AVIVA-Redaktion